CHRIST, PHILOSOPH, POLITIKER
Für das standhafte Festhalten an seiner christlichen Überzeugung wurde dem Italiener Rocco Buttiglione im Zisterzienser-Stift Heiligenkreuz bei Wien der angesehene Thomas-Morus-Preis des Alten Ordens vom St. Georg verliehen
Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi, die Gründerväter der europäischen Einigung, haben viel mit einem Mann gemeinsam, der, ohne es zu wollen, zu einem Menetekel für das Ende von deren geistiger Wurzel wurde: mit dem Philosophieprofessor und Politiker Rocco Buttiglione. Sie alle eint die Weitsicht, der staatsmännische Zugang, die große europäische Idee und das christliche Fundament, auf dem sie ihr Leben und Wirken aufbauten.
Im Unterschied zu den Gründervätern jedoch wurde Rocco Buttiglione seine christliche Grundhaltung zum Fallstrick in einer EU, die mit der Zeit ihr christliches Fundament zertrümmerte: Er wurde 2004 von seinem Heimatland Italien als Vizepräsident der Europäischen Kommission nominiert, mit dem Aufgabenbereich Justiz, Freiheit und Sicherheit. In seiner Anhörung vor dem EU-Parlament bekannte er sich als Katholik und zur Rechtsphilosophie des Naturrechts, was ein Bekenntnis zu Ehe und Familie sowie gemäß dem Katechismus einschließt, dass Homosexualität davon abweicht und falsch ist. Dieses Bekenntnis führte dazu, daß Buttiglione abgelehnt wurde. Er blieb seiner auf dem Fundament seines katholischen Glaubens fußenden Überzeugung dennoch treu und verzichtete auf eine weitere Kandidatur.
Naturrecht und christliche Grundhaltung sind in der EU-Kommission unerwünscht
Dieses Festhalten an seiner christlichen Überzeugung war der Grund, warum ihm kürzlich der angesehene Thomas-Morus-Preis des Alten Ordens vom St. Georg zuerkannt und im Zisterzienser-Stift Heiligenkreuz bei Wien überreicht wurde. Ausgewählt werden die Preisträger von einer vom Orden eingesetzten Jury unter dem Vorsitz von Prinz Gundakar von und zu Liechtenstein. Der erste Preisträger war 2018 der hochbetagte Kardinal Ernest Simoni. Dieser wurde als Priester im kommunistischen Albanien 1963 verhaftet und mußte bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur schwere Zwangsarbeit in Bergwerken leisten. Dennoch ließ er nicht von seinem katholischen Glauben und seinem Priestertum ab, obwohl er dadurch seiner Gefangenschaft entronnen wäre.
Ein Kardinal war auch diesmal zugegen, nämlich Péter Kardinal Erdő von Esztergom-Budapest. Er beschrieb in seiner Laudatio auf seinen Freund Rocco Buttiglione das Spannungsverhältnis zwischen Staat, Religion und Wahrheit: »Wünsche und Meinungen ändern sich wie das Wetter. Sie sind das Ergebnis von manipulativen Effekten. Die Frage ist: Wo bleiben die Wahrheit und die menschliche Freiheit in diesem Prozess?« Ein Staatsmann solle sich nicht davor fürchten, gegen den Strom zu schwimmen.
Einen Grundfehler sieht Buttiglione in der Ablehnung der europäischen Verfassung, in der die geistigen und christlichen Wurzeln hätten enthalten sein sollen. Die Betonung des Christlichen sei nicht konfessionell gemeint gewesen und habe keinesfalls den Ausschluß anderer Wurzeln bedeutet, betont Buttiglione. Aber jene, »die weder Christus noch Sokrates kennen, sind keine Europäer mehr«. Statt dessen habe man sich nur auf den »armseligen« Lissabonner Vertrag geeinigt, der nie funktioniert habe. Man habe das Christliche entsorgt.
Doch wie konnte es so weit kommen? »Ein Hauptfehler der Katholiken in der Politik ist ein Mangel an echten Visionen. Deshalb haben sie stillschweigend die Visionen ihrer Gegner übernommen und versucht, sie abzumildern. Oder sie haben sich dem Lauf der Geschichte in Gänze entgegengesetzt und sind von ihren Gegnern folgerichtig als Reaktionäre abgestempelt worden. Nur einige wenige große Geister wie De Gasperi, Adenauer und Schuman haben sich darüber erhoben. Sie waren Menschen der Praxis, tätige Politiker und haben nicht über das eigene Wirken theoretisiert.«
Buttiglione ist überzeugt: Ohne christliche Wurzel gibt es keine gemeinsame europäische Identität, und ohne Identität gibt es keine Solidarität. An diese Stelle sind die Interessen und deren Ausgleich getreten. Für ein gemeinsames Europa genüge es aber nicht, bloß gemeinsame Interessen zu haben, und sie genügten auch nicht, um ein gemeinsames Volk zu konstituieren. »Man braucht eine Begeisterung, das Bewusstsein einer gemeinsamen Sendung und eines gemeinsamen Schicksals.« Statt dessen werde der entwurzelte Mensch propagiert und gefördert, der in den oberen Schichten besonders häufig zu finden sei, überall und nirgendwo zu Hause.
Hier liegt nach Ansicht des Preisträgers eine weitere Ursache für die Krise Europas: In der heutigen europäischen Politik erkannte Buttiglione in seiner Dankesrede eine Dominanz einer »herrschenden Klasse«, die sich vom Volk getrennt habe und vorrangig eigenen Interessen diene statt jenen des Volkes. Dies sei jedoch das Ende der demokratischen Politik. Die Regierung brauche das Vertrauen des Volkes, habe es derzeit allerdings nicht. »Die Völker Europas vertrauen insbesondere nicht der Bürokratie in Brüssel. Es gibt eine Kluft zwischen den Eliten und dem Volk.« Die aktuelle Krise der Europäischen Union werde nicht überwunden, bis wieder neue Eliten entstünden, die das Vertrauen des Volkes gewinnen.
Buttiglione mahnt Gewissen und Wahrheit in der Politik ein: »Das Volk braucht kluge Ratgeber, denn wenn es durch kluge Ratgeber über die Wahrheit und die möglichen Konsequenzen informiert wird, trifft es fast immer die richtigen Entscheidungen.« Ein guter Ratgeber sei einer, der seinem Herrn stets die Wahrheit sage, genau wie dies Thomas Morus seinem auf Irrwege geratenen König Heinrich VIII. gegenüber vorgelebt habe. Für Buttiglione ist völlig klar: »Gegen die Wahrheit und gegen das Volk haben die Herrschenden keine Chance.«
Zu den hervorstechendsten Eigenschaften des umfassend gebildeten und sprachlich begabten Preisträgers gehören seine Bescheidenheit und sein Humor. Statt über die verpaßte Chance auf eine Karriere in der EU zu klagen, sagte Rocco Buttiglione in seiner Dankesrede bloß launig: »Ich dachte damals, es ist leichter, meinen Hintern von meinem Sessel zu trennen als mein Herz von meinem Herrn.«
Es sind Persönlichkeiten vom Format eines Rocco Buttiglione, weltgewandt und dennoch verwurzelt, hochgebildet und dennoch nicht abgehoben, kritisch und dennoch glaubensstark, klarsichtig und dennoch voll Zuversicht, die in der Politik und in Europa schmerzlich fehlen. Es ist zu hoffen, daß sein Vorbild etliche Nachahmer findet. Sie werden in Zeiten der großen Verwirrung dringend benötigt.
Gudula Walterskirchen, geb. 1967 in Niederösterreich, ist Historikerin mit Schwerpunkt Zeitgeschichte, freie Journalistin und Buchautorin sowie Mitglied der Jury des Thomas-Morus-Preises.
Erschienen im CATO-Magazin, Ausgabe 5/2023